Familienfoto auf dem Schreibtisch, Großraumbüro oder null Kilometer Arbeitsweg: Wo liegt die Zukunft der Arbeit? Laut Experten wird es zwischen Clean Desk und Homeoffice die unterschiedlichsten Lösungen geben.
Von Rebecca Sollfrank
REGENSBURG. „Mein“ und „ein“ – lediglich ein Buchstabe unterscheidet diese beiden Worte. Wenn es um „einen“ oder „meinen“ Schreibtisch geht, kann dieser eine Buchstabe über die Produktivität entscheiden. Vor der Coronakrise führte manch Unternehmen die Clean Desk Policy ein. Einen personalisierten Schreibtisch, an dem nicht nur Arbeitsmaterialien zu finden sind, sondern Familienbilder oder gar darunter ein privates Fußfahrrad, gibt es bei diesem Ansatz nicht mehr. Sobald man mit seiner Arbeit fertig ist, werden sämtliche individuellen Gegenstände entfernt, damit der nächste den Schreibtisch nutzen kann.
Wichtiger Handlungsspielraum
Maximal gibt es einen persönlichen Rollcontainer, in dem man seine bevorzugten Arbeitsmaterialien aufbewahrt, wenn man nicht arbeitet. Im Extremfall steckt der gesamte „Schreibtisch“ samt aktuellem Projektstatus auf einem Stick, den man nur noch in den PC einsteckt und danach wieder abzieht. Effizienz für das Unternehmen, Entkoppelung für die Mitarbeiter?
„Allein die Möglichkeit, dass ein Arbeitsplatz gestaltet werden kann, stellt eine Form von Handlungsspielraum für den Beschäftigten dar“, sagt dazu Martina Junk, stellvertretende Pressesprecherin des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL).
Selbstbestimmung kurbelt Produktivität an
Längst wissen Arbeitspsychologen, dass Selbstbestimmung ein wichtiger Produktivitätsmotor ist. Kein Wunder, dass selbst bei Gebäudeneubauten der Betriebsrat gegen Clean Desk Policy nicht selten Kompromisslösungen durchsetzt. Handlungsfreiheit ist ein Motivationsfaktor, Personalisierung kann an den Arbeitsplatz binden. Oder ist es einfach reine Gewohnheit, dass man „seinen“ Schreibtisch in der Firma braucht? Schließlich hat die Coronakrise die Präsenzgewohnheit in ihren Grundfesten erschüttert. Das Homeoffice ist in Sachen „mein“ Arbeitsplatz das Optimum an personalisierter Gestaltung. Nach der ersten Homeoffice-Euphorie zeigen allerdings viele Beschäftigte bereits klare Rückkehrtendenzen. „Ob das Büro in Zukunft überhaupt noch benötigt wird, steht außer Frage“, urteilt die aktuelle Studie „Homeoffice Experience“ des Verbundforschungsprojektes Office 21 – Zukunft der Arbeit unter Federführung des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO.
Keine falschen Signale senden
Unternehmen müssten, so ein Ergebnis der Studie, für ihre Belegschaft eine Arbeitsumgebung im Büro schaffen, für die es sich lohnt, den Arbeitsweg auf sich zu nehmen. Das muss aber nicht der klassische Schreibtisch mit Fußfahrrad sein. Vielleicht sogar im Gegenteil. „Wir alle nehmen mentale Abkürzungsstrategien bei der Beurteilung von anderen Menschen“, warnt LGL-Pressesprecherin Martina Junk. Familienbilder, Kinderzeichnungen und Zahnarzttermine am Arbeitsplatz können falsch verstanden werden, so Junk: „Unbewusst kann die Führungskraft diesen Mitarbeiter als weniger professionell erleben und nimmt lieber einen anderen Kollegen mit in wichtige Kundengespräche.“ Andererseits kann das Bemerken von ähnlichen Einstellungen – und die präsentiert man unbewusst an einem personalisierten Schreibtisch – Sympathie beim Vorgesetzten schaffen. Ein Lotteriespiel also. Hinzu kommt die nicht ganz neue Erkenntnis, dass eine aufgeräumte Arbeitsumgebung, die möglichst wenig Ablenkungen schafft, förderlich für Konzentration und Produktivität ist.
73 Prozent leiden an Erschöpfung
Ein bisschen „cleaner“ Desk würde also nicht schaden. Vor allem wenn es um den „Clean Homeoffice Desk“ geht. Die größte Gefahr im Homeoffice ist das „Nicht-abschalten-können“. Der Fehlzeiten-Report 2019 zeigte schon vor dem Homeoffice-Boom, dass 73 Prozent der Telearbeitenden an Erschöpfung leiden. Ob Homeofficer Feierabend machen können, hängt laut LGL auch davon ab, ob sie einen abgegrenzten Arbeitsraum zur Verfügung haben. Dort stören Arbeitsmaterialien das Familienleben nicht. In Coronazeiten dürfte das für viele im Homeoffice nicht der Fall sein. Junk rät zum Aufräumen: „Ist der Arbeitsplatz sichtbar im Wohn-, Ess,- oder Schlafraum eingerichtet, kann der Clean Homeoffice Desk das Abschalten von der Arbeit unterstützen.“
Neue New-Work-Bedingungen
Wie wird sich der Spannungsbogen zwischen Clean Desk Policy, personalisiertem Firmenschreibtisch und Homeoffice nach Corona entwickeln? Sollte im Sinne zufriedener Mitarbeiter beim Recruiting schon nach der bevorzugten Schreibtischlösung gefragt werden, wie der Bestsellerautor und Organisationsprofi Werner Tiki Küstenmacher im Interview anregt? Dass das Gegenteil von Homeoffice weder Clean Desk noch personalisierter eigener Schreibtisch sein muss und sein wird, zeigt die „Office 21“-Studie. Viele Leute werden zum Arbeiten in die Firmen zurückkehren, aber nicht mehr unbedingt an einen Punkt im Gebäude. Der perfekte Arbeitstag der Zukunft könnte demnach so aussehen: Zwei Stunden konzentriertes Arbeiten im Einzelbüro, konspirative Besprechung mit der Kollegin in der Kaffeeküche, Meeting in der Team-Area, Kundentermin in der Videotelefonie-Zone … Je weniger Zeit man an „(s)einem“ Schreibtisch verbringt, desto geringer könnte künftig das Bedürfnis ausfallen, ihm einen persönlichen Stempel aufzudrücken.
Die Gretchenfrage nach der Schreibtischpersönlichkeit
Werner Tiki Küstenmacher, Autor des Bestsellers „Simplify your Life“, erklärt im Interview, warum es den idealen Büroarbeitsplatz nicht gibt – und wie Arbeitgeber Schreibtischhengsten und digitalen Arbeitsnomaden am besten mit Flexibilität begegnen.
Foto: Küstenmacher privat
My Home is my Office
Die Arbeit daheim boomt, Büros verwaisen: Um Mitarbeiter nach Corona zur Arbeit wieder vor die Tür zu locken, müssen sich Firmen etwas einfallen lassen. Zum Beispiel optimal angepasste tätigkeitsbasierte Arbeitsplätze.
Foto: murattellioglu – stock.adobe.com